Sommernachtluft
Angst? In diesem schönen Moment? Nein Angst hatte sie keine. Sie war froh. Sie war sogar glücklich. Er hatte sie angesprochen und sie zu ihrem Erstaunen sogar eingeladen. Er war hübsch. Ja das war er alle mahl. Und sie war hin und weg.
Die Musik toste in ihren Ohren. Sie konnte nur immer wieder, in einem der grellen Blitze, seine unwiderstehlichen blauen Augen sehen. Blau? Nein für sie waren sie violett. Und sie liebte seinen Mund, wie er immer wieder an seinem Getränk nippte. Feinfühlig, so als ob er noch nie etwas Derartiges gekostet hätte.
Und sie himmelte ihn an!
Er schob sie hinaus, weg von all den störenden Leuten, weg von der störenden Musik, hinein in die erwartungsvolle Stille. Sein Auto stand weit weg und sie sog tief und gierig die Sommernachtluft ein. Oh ja, dass war Leben. Das war das Leben, auf welches sie sich heute gefreut hatte.
Ihre Eltern wusste gar nichts. Die hatte doch keine Ahnung von den Wünschen ihrer fünfzehn-Jährigen Tochter. Die Stille war angenehm, und sie wollte sie auf keinen Fall zerstören. Zu schön war es, die warme Sommernachtluft auf der nackten Haut zu spüren und neben ihm herzulaufen. Sie berührten sich nicht. Ihr Kleidchen schwang im Rhythmus ihres Ganges hin und her. Es war schön, ihr Kleid, nicht nur, weil es neu war, nein ihm hatte es gefallen. Ihm, der mit dem Auto und den schönen blauen Augen.
„Du fährst mit niemandem mit. Wir hohlen dich um zwölf ab.“ Hörte sie die eindringliche Stimme ihrer Mutter im Hotel sagen. „Ich bin im Urlaub“, kreischte sie zurück und knallte die Tür zu. Augenpaare verfolgte sie, als sie aus dem Hotel trottete.
Doch hier war sie alleine mit ihm. Und sie würde mit ihm fahren.
Sie standen am Rande der Klippe und er zeigte auf das ruhige Meer. Es war schwarz. Ruhig und tief und voller Geheimnisse.
Sie starrten lange auf das unbewegliche Meer. Sie wollte wissen, was er dachte und ihr war nicht bewusst, dass er gar nichts dachte, da er dazu nicht im Stande war. Er lächelte vor sich hin und berührte sie weiterhin nicht.
In Filmen war es immer anders, erinnerte sie sich. Der Mann nimmt sich die Frau, und sie muss sich ergeben.
Sie ergriff seien Hand, er zog sie zu sich und sie spürte seinen Atem. Sein Atem war berauschen und wunderschön.
Und sie hoffte, dass ihrer es auch war.
Dann stiegen sie in das Auto. Er lachte, als er rückwärts gegen einen Baum knallte. Sie erschrak. „Mensch pass doch auf.“
Sie sah in seine blauen Augen, die nun schwarz waren.
Sie bekam Angst. „Fahr doch nicht so schnell. Bitte.“, flehte sie ihn an. Doch ihm war es wohl egal. Ihm war anscheinend alles egal.
„Lass mich aussteigen. Ich will raus!“
Er drückte wortlos die Verrieglung des Autos herunter und wurde immer schneller. Der Tacho hatte schon die hundertsechzig erreicht, als sie sich nicht mehr traute hinzuschauen. Sie wollte doch nicht hier, in diesem Auto sterben. Die Sommernachtluft peitschte ihr ins Gesicht und war nicht mehr angenehm. Sie tat weh. Das Fenster konnte aber nicht geschlossen werden.
Doch er lachte nur bitterlich und sagte. „Ich will nicht allein sterben. Dazu hab ich viel zu viel angst. Du musst mir helfen und meine Hand halten.“ Lallte er. Sie wusste schon längst nicht mehr, dass sie noch schreien konnte und blieb stumm und vor lauter betäubender Angst sitzen. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Es war schon viel zu spät, als sie das Auto hinter ihren tränenverschmierten Augen erblickte. Viel zu spät um sich ihrer Stimme zu ermächtigen und viel zu spät als irgendwas zu fühlen oder zu denken.
Dann war es dunkel.
Viele Lichter schwirrten in ihrem Kopf herum, der pulsierte. Sie spürte einen Spuckfaden, der sich über ihre Wange zog und wollte ihn entfernen. Doch es gelang ihr nicht.
„Nora?“ Das war ihr Name, doch diese Stimme konnte sie nicht zuordnen. Sie schlug die Augen auf und wusste sofort wo sie war. Ärzte tummelten sich um sie. Gingen rein und raus.
„Was ist passiert?“ fragte das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen. Doch sie merkte nicht, wie sich Tränen in den Augen der Schwester bildeten.
„Wo ist der Junge?“ Er fiel ihr wieder ein. Doch an den Namen des Blauäugigen konnte sie sich nicht mehr erinnern.“
„Du hast sehr lange geschlafen, Nora.“ Sie wusste, dass die Schwester sie nur abwimmeln wollte.
„Sagen Sie mir, wo der Junge ist. Und das andere Auto?“, fragte sie dann.
„Sie sind gestorben. Es tut mir leid.“
Sie war perplex. Gestorben. Tot! „Er wollte das. Er wollte sich umbringen.“, rief sie. „Ja, das wissen wir. Wir haben einen Abschiedsbrief gefunden. Er wollte sich und ein Mädchen seiner Wahl umbringen.“
„Werde ich wieder gesund?“ Sie wusste nicht, ob sie es wirklich wissen wollte. Was würden ihre Eltern sagen? Würden sie böse werden? Sie wollte die Schwester lieber nicht nach ihren Eltern fragen. Die saßen wohlmöglich verzweifelt und mit einer gepfefferten Strafe im Wartezimmer.
„Es tut mir leid. Aber du wirst nicht mehr gesund.“
Das waren nicht die Worte, die sie hatte hören wollte. Erschöpft ließ sie ihren Kopf fallen. „Bitte, sagen sie der Familie des andern Autos, dass es mir Leid tut. Es tut mir wirklich leid. Bitte, sagen sie es ihr.“
Doch währen das hübsche Mädchen starb, bekam sie keine Antwort der Schwester. Kein Ja und auch kein Nicken.
„Wieso haben sie dem armen Kind diesen Gefallen unterschlagen?“, fragte der Arzt der hineinkam.
Die Tränen waren nun nicht nur in den Augen der Schwester, sonder über die Wagen geflossen, bis über zu ihrem Hals.
„Die Leute in dem anderen Wagen, waren ihre Eltern.“